VERSTEHEN – VERÄNDERN – VERWANDELN

Aspekte und Perspektiven der Organisationsentwicklung

Wer sich aufs Leben 
einlässt, lässt sich auf Veränderungen ein. Wer sich auf Veränderungen einlässt, lässt sich auf Überraschungen ein, auf Abenteuer und Abgründe, auf Schmerz und Schock, auf Tränen und Triumphe. Das gilt auch für die Veränderungen in Organisationen. Wer sich von Berufs wegen mit Change-Prozessen, Restrukturierung und organisationaler Transformation beschäftigt, sollte gut auf die Gipfel-Expedition vorbereitet sein. Sie führt über steile Pfade, Geröllhalden und durch Schnee und Eis.

Change ist die Königsdisziplin!

Nötig sind fürs Gelingen Fach- und Methodenwissen, Berufs- und Lebenserfahrung, Kenntnisse der Verhaltens- und Organisationspsychologie sowie ruhige und souveräne Kommunikation. Und das, was wir üblicherweise als Charakter bezeichnen, also eine starke, selbstreflektierte Persönlichkeit, die integer denkt und integral handelt. Der Begriff Organisationsentwicklung (OE) umfasst in einem Unternehmen die Aspekte Strategie, Struktur und Kultur.
 

 

Die soziale Wirklichkeit

zeigt uns drei Ebenen, die ich das ITO-Prinzip nenne:

          Das Individuum:         Die einzelne Persönlichkeit

T          Teams / Gruppen:       Abteilungen, Projekte, Familien

        Organisationen:         Firmen, Konzerne, Staaten

Jede soziale Gestalt braucht einen liebevoll-empathischen und einen analytischen Blick und ein tiefes Verständnis der aktuellen Situation und ihrer Vorgeschichte. Individuen, Gruppen und Organisationen sind Ausprägungen lebender „Systeme“. Stillstand in lebenden Systemen würde den Tod bedeuten oder mindestens ein existenzielles Risiko. „Change“ ist nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall. Wir sprechen vom Transformationsparadigma.

Die drei häufigsten „Arten“ von Veränderung sind:

Natürliche Prozesse:
Wechsel der Jahreszeiten, alle biologischen Prozesse, Älterwerden, Abschiede, Ruhestand, aber auch „Produktzyklen“ etc.

Äußere Impulse:
Globalisierung, neue Technologien, die Corona-Krise, politische Rahmenbedingungen, Wettbewerb an den Märkten etc.

Innere Impulse:
alle Entscheidungen, z.B. neue Firmenstrategie, neue Geschäftsfelder, Heirat, Umzug, neue Freunde etc.


Die natürlichen Veränderungen verlangt uns das Leben ab. Die äußeren Impulse kommen oft ungefragt und überraschend. Wir können ihr Entstehen nicht verhindern, doch wir können uns „zu ihnen verhalten“. So aktivieren wir unsere „Resilienz“, also Krisenfestigkeit und Veränderungskompetenz. Dabei lautet die Frage, ob diejenigen Verhaltensmuster, die wir bisher ausgeprägt haben, jetzt, da uns das Neue fordert, sich als nützlich erweisen oder als „erlernte Hilflosigkeit“?

Die inneren Impulse verweisen auf unsere Persönlichkeit, auf Entscheidungsmuster, Handlungspräferenzen, Bedürfnisse und Ziele.

In vier Millionen Jahren

ist unser Gehirn durch Selektion, Adaption und kulturelle Transformation das geworden, was es ist: Ein hochkomplexes neuronales Wunderwerk, das freilich sehr langsam lernt, vor allem auf sozialem Gebiet. Denn das Neue und Unbekannte ist zunächst das Bedrohliche. Tempo und Komplexität der Veränderungen in unserem Berufsalltag haben wir nicht gelernt. Wir suchen unbewusst Stabilität und Kontinuität und die Sicherheit der Höhle (das Wort „Gewohnheiten“ kommt von wohnen), weil sie unser Überleben zu garantieren scheint. Die rasanten Umbrüche der allerletzten Jahrzehnte sind, evolutionsbiologisch und psychologisch gesehen, eine permanente Überforderung, also Stress.

Es ist leichter, andere zu verändern als sich selbst.

Was bedeuten Veränderungen für mich ganz persönlich? Wie bin ich bisher in meinem Leben mit Schmerz, Loslassen und Abschieden umgegangen? Wie ist mein Selbst-Verständnis von Verantwortung? Wie klar ist mir, was mich persönlich antreibt in meinem Tun, Wünschen und Wollen? Welche Situationen vermeide ich lieber?

Die Ungeduld der Manager
in Veränderungs-Prozessen ist verständlich. Und meistens fatal. Erstens übersehen die Verantwortlichen oft, dass es darum geht, einen „Körper“, ein sensibles lebendiges Gebilde, ein running system, bei laufendem Betrieb umzugestalten und auf eine Zukunft auszurichten, die längst begonnen hat. 

Organisationen verhalten sich wie lebende Organismen.

Organisationen sind soziale „Körper“. Sie spüren, wie es ihnen geht. Sie nehmen Störungen im Innen und Außen wahr. Sie bestehen aus Organen, aus Kreisläufen (Blut, Atmung). Zweitens ist die Würdigung der Vergangenheit wichtig, um die Menschen für das Neue zu gewinnen. Erst, wenn das bisher Geleistete respektiert und angemessen gewürdigt wurde, sind komplexe „Systeme“ bereit, sich vorsichtig dem Neuen zu öffnen. Der passive Widerstand in Organisationen ist im Kern der Mangel an Anerkennung für die Vergangenheit! Menschen sind bereit, enorme Anstrengungen zu unternehmen und extreme Belastungen auszuhalten, wenn sie JETZT respektiert werden und der Change für sie sinnvoll und attraktiv erscheint. Daher ist das Vertrauen in die Führung elementar wichtig. Leadership braucht, um wirksam zu werden, das Gegenstück, nämlich Followship. Ganz besonders im organisatorischen Wandel. Transparenz, Glaubwürdigkeit und überzeugende Gesprächskultur sind die Schlüsselfaktoren.

Instabilität ist die Signatur
unserer beruflichen Wirklichkeit. Es erweist sich als klug, sich dieser Tatsache zu stellen und die Spannungsfelder zu erkennen. Die Polaritäten (z.B. hierarchisch vs. partizipativ) lösen sich nicht auf, doch wir können uns zwischen ihnen bewegen, Das ist besser als zu versuchen, sie zugunsten einer künstlichen Eindeutigkeit auflösen zu wollen. 

Change ist die Kunst, Widersprüche auszuhalten. 

Change ist die Fähigkeit, in einem Dazwischen zu leben und handlungsfähig zu bleiben. Wir sprechen von Ambiguitäts-Toleranz, also dem Aushalten lösungsoffener Situationen und (scheinbarer) Paradoxien. Im organisatorischen Change gibt es kein Schwarz-Weiß, sondern viele Grau- und Zwischentöne. Je mehr Change (Verunsicherung) von Außen einwirkt, desto mehr sollten die internen Bindungskräfte sein gestärkt werden! 

Was darf bleiben,
was muss gehen? Was kommt neu hinzu? 

Die BVL-Tabelle hilft:


BEWAHREN

Was soll bleiben?
Was wollen wir erhalten und bewahren?
Worauf bauen wir weiterhin?

VERÄNDERN

Was stellen wir infrage? 
Was wollen wir weiterentwickeln?
Was darf sich verwandeln?    

LOSLASSEN

Was wird beendet? 
Was wollen wir ver-abschieden? 
Was passt nicht mehr zu uns?


Organisationen zu bewegen und verändern heißt: Verhalten anpassen und verändern, menschliches Verhalten. Unter dieser Prämisse lebt jede Organisationsentwicklung. Entscheidungen werden von Menschen getroffen. Zustimmung oder Ablehnung, Gefühle, Empathie, Sympathie und Beziehungsqualität lebt nur zwischen den Menschen. 

Wenn sich Organisationen signifikant entwickeln, finden sich die Personen wieder ZWISCHEN den Polen Autonomie und Bindung, also dem Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und dem Wunsch nach Selbstbestimmung und individueller Freiheit. Beide Aspekte haben ihre Berechtigung. Der Weg im „Dazwischen“ gleicht vermutlich mehr einem Tanz als einem geordneten Flow-chart oder Projektplan.

Change-Management ist ein Tanz zwischen Polaritäten!

Welche Polaritäten und Ambivalenzen sind es, die wir sehen und verstehen sollten? Der Freiburger Change-Berater Martin Claßen hat in seinem sehr lesenswerten Buch 

(Martin Claßen: Spannungsfelder im Change Management. Verlag Handelsblatt Fachmedien, Düsseldorf 2019, 216 Seiten, € 39,00) ausführlich darüber geschrieben.

Claßen erkennt, dass es viele verschiedene Anlässe, Themen und Verläufe in Change-Prozessen gibt, auf die situativ reagiert werden muss, vor allem mit Fragetechniken und Kommunikation. Die dabei entstehenden Ambivalenzen sind das Spielfeld, auf dem sich die Praxis der Organisationsentwicklung im Unternehmen und seinem Umfeld (stakeholder und shareholder) abspielt. Von den 15 wesentlichen Spannungsfeldern im Change-Management, die Claßen benennt, sind in „heißen“ und kritischen Phasen wiederum fünf von besonderer Relevanz, die ich hier nennen möchte:

•    Wertschätzend vor wertschöpfend
•    Fokussiert vor umfassend
•    Gut genug vor perfekt
•    Hierarchisch vor partizipativ
•    Rational vor emotional

Künftig wird es darum gehen, noch beweglicher zwischen den Polaritäten zu tanzen und MIT den Menschen gemeinsam den Wandel zu gestalten. 

So ergeben sich aus meiner Sicht

Sieben Maximen für die Organisationsentwicklung

1.    Veränderung ist ein natürlicher Lebensprozess.
2.    Erst wahrnehmen, dann verstehen, dann verändern.
3.    Die Vergangenheit würdigen, die Zukunft gestalten.
4.    Die Spannungsfelder (Ambivalenzen) benennen.
5.    Die „Leitfragen“ ausformulieren und kommunizieren.
6.    Lernen, beweglich im „Dazwischen“ zu agieren.
7.    Abschied nehmen von alten „Change-Mythen“ 
8.    Hinzuziehen externer und Moderation und Beratung.

Wagen wir einen Ausblick
in die Zukunft der Unternehmenskultur(en): Es sieht danach aus, als würden die kommenden Jahre von der rasanten Auflösung vertrauter Begrifflichkeiten und Arbeitsmodalitäten geprägt sein. An ihre Stelle tritt eine neue Lebendigkeit und Beweglichkeit, ein Sich-Einlassen auf die Situationen, auf die Aufgaben, auf die handelnden Menschen. Denn die Veränderungen im Unternehmen sind zu wichtig, um sie allein dem Management zu überlassen.

Erst, wenn wir den „Change“ als natürlichen Lebensprozess wahrnehmen, sind wir auf dem Weg, von der Veränderung zur organischen „Verwandlung“ voranzuschreiten, anders gesagt: zur Freiheit im Umgang mit dem Leben, das uns jeden Tag neu und in anderer Gestalt begegnet.
 

Kallender 29.08.2020 Autor Wernfried Hübschmann

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